Erfolgsfaktor: Seelsorge
Ob beim Absturz der Germanwings-Maschine 2015 oder der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 – beide Katastrophen haben verdeutlicht, wie wichtig Seelsorge im Kontext einer Krise ist. Wenn Angehörige in Extremsituationen um ihre Liebsten trauern, bedarf es auf der einen Seite eines besonderen Einfühlungsvermögens, auf der anderen Seite aber auch einer professionellen Distanz. Wir haben mit zwei Seelsorgern gesprochen, die zahlreiche Menschen in den schlimmsten Momenten ihres Lebens begleitet haben und wissen, worauf es in solch dramatischen Augenblicken wirklich ankommt.
Am Morgen des 14. Juli 2021 ahnte Jörg Meyrer noch nichts davon, dass er in wenigen Stunden die größte Katastrophe seines Lebens zu bewältigen haben würde. Seit 20 Jahren ist er Pfarrer der katholischen Pfarrgemeinde St. Laurentius in Bad Neuenahr-Ahrweiler. In der Kleinstadt mit weniger als 30.000 Einwohnern kennt fast jeder jeden – in gewisser Weise ist es eine heile Welt. Jahr für Jahr wird das Weinfest gefeiert und auch beim Schützenfest trifft man sich. In Neuenahr-Ahrweiler herrscht eine starke Gemeinschaft und der Zusammenhalt wird hier noch groß geschrieben. Es ist jedoch auch eine trügerische Sicherheit, die suggeriert, dass Unglücke und Krisenereignisse woanders passieren und nicht in dieser beschaulichen Idylle zwischen Weinbergen und der Ahr.
Wenig später ist von all dem jedoch fast nichts mehr übrig. Die Ahr trat in der Nacht vom 14. Juli auf den 15. Juli 2021 über die Ufer und erreichte ein historisches Rekordhoch von über fünf Metern. Die Wassermassen zerstörten auf brutale Weise einen Großteil der Kleinstadt – Autos, Häuser, Brücken und Bäume wurden mitgerissen. Alleine in Neuenahr-Ahrweiler starben in der Unglücksnacht 74 Menschen. Was blieb, war ein Ort der Zerstörung, ein Ort der Trauer um die vielen Opfer, aber auch ein Ort der Hoffnung und der Hilfsbereitschaft. Als Seelsorger bis heute immer ansprechbar: Pfarrer Jörg Meyrer. Über seine Erlebnisse während der Flutkatastrophe hat er ein Buch mit dem Titel „Zusammen halten“ geschrieben und sagt im Gespräch mit dem 22316_MAG über seine eigene Arbeit: „Es kam und kommt auf das Dasein und Zuhören an. Das ist das Wichtigste. Für viele war das Unterbrechen des Schippens von Müll, der ja das eigene Leben war, wichtig. Mal kurz inne zu halten. Ich erinnere mich lebhaft an Gespräche und auch kurze Umarmungen. Sobald es etwas mehr Zeit zum Reden gibt, sind die Flut und ihre Folgen auch heute immer noch Thema.“
„Die Beerdigungen waren eine riesen Herausforderung“
Meyrer betont zudem, auch seine eigenen Grenzen als Seelsorger erkannt zu haben. Wenn das Dasein und Zuhören nicht mehr gereicht habe, seien Kontakte zu Psychologen vermittelt worden. Es sei in einer solchen Extremsituation aber wichtig gewesen, aktiv zu fragen, wie es den Menschen gehe. Und dann sei da noch eine andere Aufgabe gewesen: „Die Beerdigungen waren eine riesen Herausforderung. Wir haben hier sehr viel Tod und auch Verabschiedung erleben müssen“, erklärt der Geistliche. Um sein eigenes Sicherheit habe er derweil nicht fürchten müssen: „Ich stand kurz mit beiden Beinen bis zur Hüfte im Wasser, aber ich habe in der Nacht keine Angst gehabt, dass es mir an mein Leben gehen würde.“ Den 74 Menschen, die diese dramatische Nacht nicht überlebten, ging es da wahrlich anders. Sie hinterließen Angehörige, die unter Schock standen, große Trauer empfanden und vergeblich nach einer Antwort auf die alles entscheidende Frage suchten: Warum?
Dazu meint Meyrer: „Es hat lange gebraucht, um überhaupt in diese Reflektionsschleife zu kommen. Was ist uns da eigentlich passiert? Wir haben die Hölle erlebt, aber auch den Himmel mit all den Menschen, die zu uns gekommen sind. Für viele Betroffene war das auch eine wichtige Erfahrung, dass Hilfe da war ohne betteln zu müssen. Das ist Weihnachten: Gott wird Mensch.“ Ein Segen war für den Pfarrer, der nicht zu vergessen ja auch nur ein Mensch ist, sein eigenes Team, mit dem er sich jeden Morgen getroffen hat. „Wir haben versucht, die Dinge die wir erlebt haben, auch zu verstehen“, erklärt er und fügt hinzu: „Ich war außerdem sehr froh, dass ich jede Nacht in meinem Bett schlafen konnte – auch wenn es kein Wasser und keinen Strom gab. Einen Raum zu haben, in dem nicht auch noch die Zerstörung herrschte, hat mir geholfen. Ein Stück Normalität tatsächlich.“
„Wir bauen wieder auf, wissen aber auch, dass es nicht so wird wie vorher“
Nach Normalität sehnen sich viele und doch ist diese in Bad Neuenahr-Ahrweiler noch immer nicht an der Tagesordnung. Handwerker für den Wiederaufbau sind Mangelware, die staatlichen Hilfen längst nicht so unbürokratisch wie angekündigt und dann ist da auch noch die ungewisse Zukunft, denn ein Hochwasserkonzept für das gesamte Ahrtal gibt es noch immer nicht. Erneute Starkregensituationen würden die Menschen in der Kleinstadt sehr triggern, denn noch ein Wiederaufbau sei für viele von ihnen sehr wahrscheinlich nicht zu stemmen. „Wir bauen wieder auf, wissen aber auch, dass es nicht so wird wie vorher“, sagt Jörg Meyrer. Die Erinnerungen an diese dramatische Nacht sind auch bei ihm noch sehr lebendig: „Was mich heute noch ganz stark berührt sind die Flutmarkierungen. Man sieht die Linien an vielen Häusern noch immer. Dann merke ich, was für unvorstellbare Wassermassen das waren und wie groß die Zerstörung war.“ Ob und wann diese Bilder den Pfarrer aus Bad Neuenahr-Ahrweiler wieder loslassen, ist ungewiss.
Einer, der das Gefühl des nicht loslassen könnens ebenfalls kennt, ist Dr. Uwe Rieske. Ab 2011 arbeitete er als Landespfarrer für Notfallseelsorge, bevor er 2018 zum Dekan in der Militärseelsorge wurde. Er sagt: „Manche Menschen sind mir nie mehr aus dem Kopf gegangen. Die Schicksale wirken nach, das ist so. Auch nach Jahren noch.“ Der 61-Jährige weiß wovon er spricht, war er doch bei einigen der schlimmsten Unglücksfälle der letzten Jahrzehnte im Einsatz. Nach dem Tsunami 2004 in Thailand und dem Loveparade-Unglück 2010 in Duisburg wurde Rieske einige Zeit später hinzugezogen. Beim Absturz der Germanwings-Maschine 2015 war er sogar ab dem ersten Tag als Seelsorger am Düsseldorfer Flughafen dabei.
„Es gibt Situationen, in denen man Menschen nicht erreicht“
Der Familienvater betont ebenfalls, wie wichtig das Zuhören im Kontakt mit Angehörigen in solch schlimmen Momenten ist. Er sagt aber auch: „Es gibt Situationen, in denen man Menschen nicht erreicht. Das Leid und die Konfrontation mit dem Schmerz ist dann so stark, dass die Betroffenen mich gar nicht wahrnehmen können.“ Rieske versucht es dennoch und möchte sein Gegenüber in der Regel zum erzählen bringen. „Ich versuche das Gehörte für mich zu sortieren und eine Rückmeldung darüber zu geben, was ich verstanden habe. Diese kommunikative Spiegel-Technik ist letztendlich mit der verstehenwollenden Empathie gepaart. Ich möchte immer wissen: „Was brauchst du jetzt? Was ist für dich wichtig? Wo sind deine Ressourcen? Was sind deine Fragen und Nöte?“, ordnet der Pfarrer sein Vorgehen ein.
Es sei wichtig, solchen Tragödien als Mensch zu begegnen und eine Balance zwischen Nähe und Distanz beizubehalten. Aber auch das funktioniere nicht immer, gibt Rieske zu: „Ich habe das erlebt, als die Särge mit den Opfern des Germanwings-Absturzes zurückkamen und wir am Düsseldorfer Flughafen drei Abschiedszeremonien vorbereitet hatten, für die Verstorbenen der Crew, für die übrigen Passagiere und wiederum eine eigene Verabschiedung für die 16 Schülerinnen und Schüler und die zwei Lehrerinnen der Schule aus Haltern. Da ist es mir passiert, dass ich bei der letzten Gruppe rausgekickt wurde, weil die Identifikation zu stark war. Ich bin selbst Vater von sechs Kindern und habe meine älteren Jungs öfter an den Flughafen gebracht. Ich musste dann wirklich raus und brauchte mein Team, um mich wieder zu sammeln.“
„Einmal hat mich ein Vater komplett zusammengeschrien“
Mehrfach habe sich die Wut der Betroffenen auch gegen ihn gerichtet. Damit umzugehen, sei nicht immer leicht. „Unter dem Vorzeichen der Warum-Frage hat mich ein Vater mit Ansage einmal komplett zusammengeschrien. Man steht da, lässt diesen Menschen brüllen und geht anschießend auf ihn zu, um ihn in den Arm zu nehmen. Dann kommen die Tränen. Wut und Trauer liegen ja häufig sehr nah beieinander“, so der Seelsorger. Oft wisse er auch trotz seiner jahrelangen Berufserfahrung schlicht selbst nicht, was in einer solchen Momenten zu tun sei. „Es gab eine Situation, in der mir jemand nach dem Verlust des einzigen Kindes in die Augen schaute und ich dachte, dass hier jedes Wort falsch ist. Da ist Klappe halten besser – und selbst das ist falsch. Wenn Eltern ihre Kinder verlieren, dann verlieren sie ein Stück weit ihre Zukunft.“
Wie er selbst mit dieser Belastung umgeht? Darauf hat Uwe Rieske eine einfache, aber erfrischend ehrliche Antwort: „Wenn ich hier zu Hause reinkomme, begrüßt mich immer zuerst unsere Hündin. Auch meine Kinder, die jetzt gerade wieder durch die Tür schauen, setzen eine eigene Wirklichkeit. Die ist oft super anstrengend, furchtbar nervig, aber darin unbegreiflich zauberhaft. Ein Geschenk, unerwartet unverdienbar. Und ich habe eine Frau, die mich tatsächlich versteht. Manchmal sogar besser, als ich selbst es tue.“