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Erfolgsfaktor: Zusammenhalt

Eine landesweite Energiekrise in Kriegszeiten, Folgen der Corona-Pandemie, unüberbrückbare Positionen in der Gesellschaft und ein Auseinanderdriften der politischen Landschaft. Hinzu kommt Hass im Netz, Gewalt und fehlende Zivilcourage im Alltag. Befindet sich Deutschland in einem eskalierten Zustand in dem Gesellschaftlicher Zusammenhalt fehlt?

Ich bin davon überzeugt, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland zumindest in Gefahr ist. Um zu dieser Ansicht zu gelangen, reicht ein Blick in fast alle Bereiche des Lebens. Was mich jedoch noch viel mehr beschäftigt, ist die Frage, wie wir dieser Gefahr wirksam entgegentreten können.

Dialogformate aufbauen und pflegen hieß bisher einer der Lösungsansätze. Doch die Formate scheinen nicht mehr auszureichen. Vielerorts ist ein Dialog gar nicht mehr gewollt. Die Gräben wirken unüberbrückbar, ein Konsens unmöglich. Die Herausforderungen sind komplex und in der Vielzahl. In diesem Beitrag habe ich einige spannende Studien, Expertenmeinungen und konstruktive Ansätze zum Thema „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ zusammengefasst, denn ich glaube nicht nur fest daran, dass es sich lohnt, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu kämpfen, sondern dass wir Wege für mehr Zusammenhalt finden werden! Dieser Beitrag sprengt die sonst üblichen Textlängen – sehen Sie es mir bitte nach! Im Übrigen betrachte ich ihn als unvollendet, denn unsere Gesellschaft ist in einem steten Wandel und es wird auch in Zukunft Mitstreiter geben, deren Lösungsansätze Gehör finden sollten.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt – was ist das überhaupt?

Laut einer Definition der Bertelsmann Stiftung setzt sich der Begriff aus der Qualität sozialer Beziehungen, der Orientierung am Allgemeinwohl und dem Grad der regionalen Verbundenheit zusammen. Diese drei Aspekte erfahren seit einigen Jahren einen fundamentalen Wandel.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Gefahr: 5 wichtige Erkenntnisse

Betrachten wir Deutschland einmal unter der Lupe. Dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in Gefahr ist, lässt sich anhand von 5 Erkenntnissen manifestieren.

Erkenntnis 1: Hass im Netz gefährdet die Demokratie

Es wird beleidigt, gepöbelt und bedroht. In sozialen Netzwerken kann von gesellschaftlichem Zusammenhalt keine Rede mehr sein. Es geht um Meinungsäußerung ohne Rücksicht auf Verluste. Unter anonymisierten Nicknames hetzen Menschen im Netz gegen Ausländer, Politiker, Stars oder all jene, die gerade nicht in ihr Weltbild passen. Ein falsches Wort reicht und es braut sich ein Shitstorm zusammen, der mehrere Tage die Medien beherrscht. Es ist ein Paradox: Sollte eine vernetzte Welt nicht zu einem besseren gesellschaftlichen Miteinander beitragen? Genau das Gegenteil ist der Fall, wie die Studie „Hass im Netz: Der schleichende Angriff auf unsere Demokratie“ des Meinungsforschungsinstituts YouGov zeigt.

Die bisher größte repräsentative Online-Befragung mit 7.349 Teilnehmenden im Alter zwischen 18 und 95 Jahren offenbart, dass Hass im Netz die Demokratie gefährdet. „Etwa die Hälfte der Internetnutzerinnen und -nutzer gibt an, sich in Reaktion auf Hassrede im Internet seltener zu ihrer politischen Meinung zu bekennen (54 %) und sich seltener an Diskussionen im Netz zu beteiligen (47 %)“, heißt es in dem Bericht. Dabei ist die freie Meinungsäußerung ein wesentlicher Bestandteil unserer Demokratie. Sogenannte „Hater“ im Netz sorgen nicht nur dort für ein ungutes Gefühl. Weiter heißt es in der Studie: „Wenn die Haterinnen und Hater in Kommentarspalten dominieren, entsteht der Anschein, sie seien auch gesellschaftlich in der Mehrheit.“

Dieses Gefühl lässt viele Menschen hilflos zurück. Hetze wird von Plattformen wie Facebook nur dann gelöscht, wenn sie gegen die eigenen Geschäftsbedingungen verstößt. Und selbst wenn das der Fall ist, dauert es mehre Stunden, bis der Inhalt verschwunden ist. Das Netz ist jedoch kein rechtsfreier Raum. Wer sich Hasskommentaren ausgesetzt fühlt, kann Anzeige erstatten. Auf Bundesebene hilft zudem die Meldestelle für Hetze im Netz.

Dort heißt es: „Um effektiv gegen Hass im Internet vorzugehen, werden Ihre Hinweise bundesweit von der Meldestelle respect!‘ entgegengenommen und geprüft. Beiträge die den Tatbestand der Volksverhetzung, Beleidigung, üblen Nachrede oder Verleumdung erfüllen leitet die Meldestelle dann Plattformbetreibern mit der Aufforderung zur Löschung weiter. Fälle der Volksverhetzung nach §130 StGB [1] werden von der Meldestelle zur strafrechtlichen Verfolgung angezeigt.“ Der rasanten Geschwindigkeit des Internets entspricht unser Rechtssystem dennoch nicht.

Erkenntnis 2: Wutbürger schüren Ängste innerhalb der Bevölkerung

Ein weiteres Phänomen sind die sogenannten Wutbürger. Sie gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt, indem sie Ängste schüren und die Bevölkerung entzweien. Wutbürger sind eine Folge des demografischen Wandels. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Deutschland die am stärksten alternde Gesellschaft der Welt darstellt. Gleichzeitig nimmt das Bevölkerungswachstum ab, denn es werden hierzulande immer weniger Kinder geboren. Dominiert wird die Gesellschaft somit von den über 50-Jährigen.

Diese Tatsache stellt ein großes Problem dar, wie auch Dr. Gernot Barth in seinem Vortrag beim Zukunftsforum der Deutschen Public Relations Gesellschaft, kurz DPRG, am 24. und 25. Juni 2019 in der Hamburger Fresenius Hochschule erklärte. Barth ist seit über 15 Jahren als Mediator und Konfliktberater in der Wirtschaft tätig. Er gilt als Experte für außergerichtliches Konfliktmanagement. In seinen Augen hätten die über 50-Jährigen ein primäres Ziel: Die Bewahrung des Bestehenden und ihrer Errungenschaften. Sie seien im Vergleich zu jungen Menschen weniger aufgeschlossen gegenüber Neuem.

Genau an dieser Stelle greife das Phänomen des Wutbürgers. „Der Wutbürger sieht sich in seiner Heimat bedroht und sieht das in seiner Existenz gefährdet, was er selbst aktiv gestaltet und geschaffen hat“, erklärt Barth. In seiner Erscheinung sei der Wutbürger jedoch nicht festgelegt. Er könne genauso gut im Gewand des Mitarbeiters auftreten, wie auch als Kunde oder Bürger. Meist sei er männlich und in mehr als 70 Prozent aller Fälle älter als 45. Der Protest des Wutbürgers sei dabei stets laut und nicht auf Konsens bedacht. Viele aggressiv geführte Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen während der Pandemie waren dafür ein gutes Beispiel.

Der Wutbürger ist auch geschichtlich gesehen ein bekanntes Phänomen: Unvergessen sind etwa die Bilder der Menschenmassen im Osten Deutschlands, die bei Protesten gegen die Aufnahme von Flüchtlingen mit „Merkel muss weg“-Parolen durch die Straßen zogen. Der Wutbürger ist in der gesellschaftlichen Wahrnehmung präsent und deshalb so gefährlich. An einem Dialog mit Andersdenkenden ist er nicht interessiert. Dr. Gernot Barth ist sich sicher: „Wutbürger werden in den nächsten Jahren ein bleibendes Sozialphänomen darstellen.“

Erkenntnis 3: Armut verhindert Zusammenhalt

Die Bertelsmann-Stiftung hat im Jahr 2017 in der bereits genannten Studie einen Vergleich zwischen den Bundesländern unternommen. Das Ergebnis: Eine Komponente für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist die Region. In den drei Kategorien „Qualität sozialer Beziehungen“, der „Gemeinwohlorientierung“ und dem „Grad der regionalen Verbundenheit“ konnten Werte von 0 (schwacher Zusammenhalt) bis 100 (starker Zusammenhalt) angegeben werden. Daraus ist ein Gesamtindex errechnet worden. Das Saarland (63,07), Baden-Württemberg (63,00) und Bayern (62,96) liegen auf den ersten drei Plätzen. In diesen drei Bundesländern ist insbesondere die Verbundenheit hoch.

Die letzten drei Plätze belegen Thüringen (58,63), Brandenburg (57,71) und Sachsen (57,06). Zwar ist die Verbundenheit auch in diesen Bundesländern hoch, dafür ist der Unterpunkt Gerechtigkeitsempfinden verhältnismäßig schlecht ausgeprägt. Dr. Kai Unzicker von der Bertelsmann-Stiftung erklärt dazu: „Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist dort geringer, wo viele Arbeitslose und arme oder von Armut gefährdete Menschen leben – das wird in den Regionen noch deutlicher als auf der Ebene der Bundesländer. Vor allem eine hohe Jugendarbeitslosigkeit steht in negativer Beziehung zum Zusammenhalt. Ähnlich verhält es sich mit einem hohen Anteil von Schulabgängern ohne Hauptschulabschluss und einer überalterten Bevölkerung.“

Generell lässt sich festhalten, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt im Osten geringer ausfällt, als im Westen. Doch unabhängig von der Region beurteilen drei Viertel der Befragten in Deutschland den gesellschaftlichen Zusammenhalt als zumindest teilweise gefährdet. Stephan Vopel, Programmleiter bei der Bertelsmann Stiftung, stellt aber auch klar: „Die konkreten Alltagserfahrungen der Menschen sind besser als das, was sie für das gesamte Land vermuten.“

Erkenntnis 4: Wenig Vertrauen in politische Institutionen sorgt für Spaltung

Über Jahre hinweg sank das Vertrauen in Institution. Der Abwärtstrend ist mittlerweile zwar gestoppt, doch gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern.

„Im Saarland gibt es den größten Vertrauensanteil. Gemeinsam mit Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Hamburg gehört es zu der Gruppe von Bundesländern mit den geringsten Prozentsätzen an Personen, die wenig oder kein Vertrauen in die deutschen Institutionen setzen (jeweils unter 20 Prozent)“, heißt es in der Studie (S. 45) weiter. Das geringste Vertrauen in Institutionen haben Menschen aus Brandenburg, Berlin und Sachsen.

Die Studie offenbart aber auch, dass das Vertrauen immer auch von der Institution selbst abhängt. „Im Allgemeinen als „unpolitisch“ geltende Institutionen wie Gerichte (im Mittel: 15 Prozent Misstrauen zu 49 Prozent Vertrauen) und Polizei (acht Prozent Misstrauen zu 70 Prozent Vertrauen) erzielen gemeinhin großes Vertrauen. Als „politisch“ wahrgenommene Institutionen (Landtag: 21 zu 28 Prozent; Landesregierung: 22 zu 30 Prozent; Bundestag: 24 zu 29 Prozent; Bundesregierung: 25 zu 30 Prozent) wiederum schneiden notorisch schlechter ab“, heißt es weiter (S.45).

Für gesellschaftlichen Zusammenhalt ist das Vertrauen in politische Institutionen von großer Wichtigkeit. Konstant niedrige Werte spiegeln das Verhältnis der Bevölkerung zur Politik. Dabei ist ein großer Teil des Regierungsapparates vom Volk gewählt. Sobald von „denen da oben“ die Rede ist, entsteht eine Spaltung, die Misstrauen zur Folge hat. Während aber politische Akteure über mangelnde Wahlbeteiligung klagen und die Politikverdrossenheit der Menschen anprangern, fühlt sich der „kleine Mann“ oft im Stich gelassen und mit seinen Sorgen nicht ernst genommen. Den Dialog suchen beide Akteure meist nur vor wichtigen Wahlen – und dann ist es zu spät.

Erkenntnis 5: Gewalt im öffentlichen Raum lässt Menschen hilflos zurück

Immer mehr Menschen fühlen sich im öffentlichen Raum nicht mehr sicher. Es sind die furchtbaren Schlagzeilen in Medien, die einen großen Teil der Bevölkerung hilflos zurücklassen. „Junge in Frankfurt vor ICE gestoßen“, „Mord an Maria K. – zwei Männer wegen Tötung aus Mordlust angeklagt“ oder „Elf Männer sollen eine 18-Jährige missbraucht haben“. In der subjektiven Wahrnehmung vieler Menschen passieren solche abscheulichen Taten immer häufiger. Es ist zunächst zweitrangig, ob das tatsächlich der Fall ist, oder die zunehmende Medienberichterstattung zu diesem Eindruck führt. Hier geht es um die gefühlte Sicherheit!

Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist dann in Gefahr, wenn keine Vertrauensbasis mehr vorhanden ist. Wenn sich Menschen nicht mehr mit Offenheit, sondern mit Furcht begegnen, weil sie stets davon ausgehen, dass die andere Person ihnen im schlimmsten Falle nach dem Leben trachtet. Auch das Phänomen der Gaffer und die Angriffe auf Feuerwehrleute und Polizisten machen etwas mit uns: Anstatt Menschen in Notsituationen zu helfen, schauen Gaffer tatenlos zu, behindern Rettungskräfte, greifen sie sogar an – nicht nur auf Autobahnen. Dieses asoziale Verhalten geht mit einem Vertrauensverlust einher. Wo sind sie, die gute „Kinderstube“, die Zivilcourage, die Solidarität?

Ein weiterer Aspekt ist das Gefühl von Entfremdung im eigenen Land. Die Flüchtlingskrise hat 2015 für über eine Millionen Zuwanderer in Deutschland gesorgt. Die bereits erwähnten Wutbürger sehen in den Migranten die Wurzel allen Übels – und sorgen mit ihren hasserfüllten Wortmeldungen für zusätzliche Spannungen in der Gesellschaft.

Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl vermeldete jüngst einen Anstieg von gewaltsamen Angriffen auf Straßen und Plätzen. „Die Zahl sogenannter Aggressionsdelikte in der Öffentlichkeit kletterte um fünf Prozent auf 27.444 Fälle“, schrieb „Welt.de“ unter dem Titel: „Gewalt im öffentlichen Raum nimmt deutlich zu“.

Es bleibt die Frage: Was tun? Institutionen wie die Polizei wirken oft machtlos. Gerade in Städten wie Berlin oder Essen, wo arabische Clans oft ganze Stadtteile beherrschen, ist dieser Eindruck auch keineswegs ungerechtfertigt.

Gesellschaft in der nächsthöheren Konfliktstufe?

Wo steht nun unsere Gesellschaft? Wie groß ist der Scherbenhaufen? Ist der Wille zur sachbezogenen, kooperativen Konfliktlösung in unserem Land noch erkennbar oder sind wir schon in eine nächsthöhere Stufe des gesellschaftlichen Konflikts eingetreten? Das vermutet Mediator und Konfliktberater Dr. Gernot Barth. „Ein respektvoller Umgang mit Differenzen ist noch kein Konflikt“, sagt er. Erst dann, wenn sich eine Person, eine Gruppe oder Partei durch eine andere Person, Gruppe oder Partei in ihrem Handeln zur Realisierung von Interessen, Bedürfnissen oder Anliegen beeinträchtigt fühle, läge ein Konflikt vor – und dieser Konflikt verschärfe sich in Eskalationsstufen. Diese beschrieb Barth im Rahmen des DPRG Zukunftsforums und bezog sich auf den Urheber Friedrich Glasl.

  • Link zum Nachlesen: Friedrich Glasl, Konfliktmanagement: Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater, 1994, S. 362 ff

Konflikt-Eskalationsstufen

Erste Hauptphase: Sachbezogen-Kooperativ (win – win)

  •  „Die Verhärtung“: In dieser Phase des Konflikts verhärten sich die Standpunkte. Sie prallen aufeinander. Es gibt aber noch keine starren Parteien oder Lager. Noch gilt die Überzeugung, dass Spannungen durch Gespräch lösbar sind. Die Ursachen für diese Konfliktstufe können zum Beispiel Missverständnisse oder auch Unachtsamkeiten sein.
  • „Die Debatte“: In dieser Phase verhärtet sich der Konflikt. Jede Partei ist sich sicher, im Recht zu sein. Es kommt zu ersten verletzenden Äußerungen, zu einem Schwarz-Weiß-Denken. Der „Gegner“ wird verbal unter Druck gesetzt. Auch in dieser Stufe sind gütliche Lösung und ein Beziehungserhalt noch möglich
  • „Die Taten“: In dieser Phase hilft Reden nichts mehr, also folgen Taten. Es ist die „Strategie der vollendeten Tatsachen“. Verbal und nonverbal besteht eine hohe Diskrepanz. Es kommt zu Projektionen und Schuldzuschreibungen. Eigenverantwortung wird nicht übernommen, die Empathie geht verloren.

Zweite Hauptphase: beziehungsbezogen-kompetitiv (win – lose)

  • „Images/ Koalitionen“: In dieser Phase des Konflikts reagiert jeder nur. Es geht darum, den Gewinner bzw. Verlierer auszumachen. Feindseligkeit werden ausgetauscht, möglicherweise „Lücken in Normen“ in Form von „dementierbarem Strafverhalten“ gesucht, die Gegenseite wird abgewertet, in negative Rollen manövriert, Stereotypen aufgebaut, Kampagnen gefahren – und hinter all dem treten die eigentlichen Sachfragen zurück.
  • „Gesichtsverlust“: In dieser Phase des Konflikts gibt es deutliche und direkte Angriffe und Gesichtsverluste. Der Konflikt wird personifiziert und ein Engel-Teufel-Bild gemalt. Die Phase geht mit Vertrauensverlust einher. Es geht um den Ausschluss und das Verbannen zugunsten von Ideologien, Werten und Prinzipien.
  • „Drohstrategien“: In dieser Phase des Konflikts wechseln sich Drohungen und Gegendrohungen ab. Ängste werden geschürt, dosierte Gewalt ausgeübt. Der Zwang zum Handeln wird zur Ultima Ratio aufgebaut und Ultimaten gesetzt.

Dritte Hauptphase: gewaltbezogen-destruktiv (lose – lose)

  •  „Begrenzte Schläge“: In dieser Konfliktstufe kommt es zu begrenzten Vernichtungsschlägen als „passende“ Antwort. Sie geht mit relativ kleinen eigenen Schäden einher, die als Gewinn wahrgenommen werden. Es kommt zu Angriffen auf Sanktionspotentiale.
  • „Zersplitterung“: In dieser Konfliktstufe kommt es zu Angriffen auf die Infrastruktur beziehungsweise das Nervensystem. Vitale Systemfunktionen werden zerstört, das System wird unsteuerbar und zerfällt
  • „Gemeinsam in den Abgrund“: In dieser Konfliktstufe gibt den Weg zurück nicht mehr. Hier herrscht die totale Konfrontation vor und der gemeinsame Untergang ist sicher.

Wir können sicherlich für jede dieser Konfliktstufen treffende Beispiele finden. Dass Barth vermutet, Deutschland sei in die zweite Hauptphase, die beziehungsbezoge-kompetitive Konfliktstufe, eingetreten, ist nachvollziehbar. Plakativ ersichtlich nicht nur an der lange geführten „Greta“-Klima-Debatte, die man wohl kaum mehr als Debatte bezeichnen kann, angesichts der zahlreichen Abwertungen der jeweiligen Gegenseite, dem Aufbau von Stereotypen und den Kampagnen, die gefahren wurden und werden. Und würden wir vor dem Hintergrund des Brexits den Status des britischen Parlaments und des britischen Volkes bestimmen wollen, steht zu befürchten, dass wir die Lage als dem Abgrund bedrohlich nah einschätzen würden.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt: 7 konstruktive Lösungsansätze

Die Erkenntnisse über unsere Gesellschaft zeichnen ein düsteres Bild. Deutschland steht vor extremen Herausforderungen und hat jetzt auch noch mit einer Energiekrise zu kämpfen. Wir – das Volk – stehen ebenfalls vor extremen Herausforderungen und niemand wird uns diese Aufgabe abnehmen. Spannend ist in diesem Zusammenhang ein Kommentar von Prof. Wolfgang Schroeder. Er lehrt Politikwissenschaften in Kassel, ist Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin und SPD-Mitglied. Schroeder sagte in Der Welt vom 08. September 2019: „Die eigentliche Aufgabe der SPD besteht in einer Politik des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Ohne sie ist dieser Zusammenhalt zwischen unten, Mitte und oben in Deutschland nicht zu schaffen.“ Nur die SPD könne angesichts der großen sozialökonomischen Herausforderungen unserer Zeit soziale, wirtschaftliche und ökologische Interessen versöhnen. Sie repräsentiere ein Ensemble von Ideen, Prinzipien und Zielen, die für unsere Gesellschaft nach wie vor unverzichtbar seien. Die Antwort gab Professor Schroeder auf die Frage, was die älteste Partei Deutschlands, der es schlecht gehe, jetzt tun müsse. Spannend! „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ als SPD-Claim?

Wie auch immer wir der Spaltung der Bevölkerung entgegenwirken wollen, es wird Zeit! Und es gibt genügend konstruktive, wenngleich nicht neue Lösungsansätze. Additiv verstanden, können sie aber durchaus der Anregung dienen:

Lösungsansatz 1: Viel mehr Dialogformate

Dialogformate sind wahrlich kein neuer Lösungsansatz, aber sie sind unabdingbar. „Handarbeit“ nennt Die Welt vom 17. September 2019 den Dialog auf ihrer Titelseite neben dem Foto von Boris Johnson und Jean-Claude Juncker. Dort heißt es: „…Sie stimmten laut einem Sprecher des Premierministers … darin überein, dass die Gespräche verstärkt werden müssen und dass Treffen bald täglich stattfinden sollen.“

Anstrengend, aber sehr, sehr richtig! Dialogformate sollte es viel mehr und viel kontinuierlicher geben! Das Grundproblem, das den gesellschaftlichen Zusammenhalt vor große Herausforderungen stellt, ist nämlich mangelnde Kommunikation. Menschen entzweien sich dann, wenn sie nicht mehr miteinander, sondern nur noch übereinander sprechen. Dialogformate sind ein zielführender Weg. Sie können Personen zusammenführen, die schon lange kein persönliches Wort mehr aneinander gerichtet haben. Dabei kommt es aber auf die Kontinuität an, nicht nur auf das kurzfristige Ziel, das in der Politik oft „Wahlgewinn“ heißt. Bei solchen Veranstaltungen fühlen sich die Bürger nämlich nicht selten hinters Licht geführt. Ist es doch zu offensichtlich, was die Politiker mit ihren Auftritten bezwecken wollen.

Dialogformate sind zudem eine gute Möglichkeit, um Vertrauen zurückzugewinnen. Auch in der Politik! Und das haben die Politik und die Parteien belegbar nötig, zeigt eine Studie der Bertelsmann Stiftung. Sie fand heraus, dass das Vertrauen in die Bundesregierung deutlich abgenommen hat.

Lösungsansatz 2: Mehr Partizipation

In den ersten Lösungsansatz spielt auch Partizipation hinein. Entscheidungen werden dabei nicht länger für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe und damit über ihren Kopf hinweg getroffen. „Partizipation bedeutet, dass sich Menschen (Organisationen, Verbände, Parteien) aktiv und maßgeblich an allen Entscheidungen beteiligen, die ihr Leben beeinflussen“, schreibt etwa das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf seiner Website

Das Prinzip ist simpel: Dadurch, dass Menschen ihre Ideen und Vorstellungen in ein Vorhaben einbringen, machen sie es zu ihrem eigenen Projekt und stehen auch für dessen Erfolg ein. Eine kollektive „Ist mir egal“-Haltung, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt ebenfalls gefährdet, ist so fast unmöglich. Das Gemeinschaftsgefühl steigt derweil und sorgt insgesamt für mehr Verbundenheit.

Lösungsansatz 3: Fokus auf kollaborative Zusammenarbeit

Einen weiteren Weg zu mehr Vertrauen auch und gerade in politische Institutionen stellt die kollaborative Zusammenarbeit da. Immer wieder sehen sich insbesondere Behörden dem Vorwurf ausgesetzt, mit veralteten Methoden zu arbeiten. Ein weiterer Kritikpunkt ist der, dass verschiedene politische Institutionen eher gegeneinander als miteinander arbeiten. Im Volksmund heißt es nicht selten: Die eine Hand weiß nicht, was die Andere tut. Hier schafft die kollaborative Zusammenarbeit Abhilfe. Sie beschreibt eine intensive Form der Kooperation und ermöglicht gleichzeitig neue Arbeitsabläufe. Diese würden wiederum zu einem besseren Image beitragen, denn nicht selten gelten politische Institutionen noch immer als „verschnarcht“.

Kollaborative Zusammenarbeit würde aber nicht nur die Außenwirkung von politischen Institutionen stärken. Werfen wir einmal einen Blick in den Apparat. Mitarbeiter von Behörden und Ministerien haben nicht selten mit Bürokratie zu kämpfen. Sie macht einen Großteil der Arbeit aus – und lässt nicht wenige Menschen verzweifeln. Kommt dann auch noch die Begegnung mit einem Bürger hinzu, ist ein Konflikt quasi vorprogrammiert. Ändern sich die Arbeitsabläufe jedoch, so entsteht auch in politischen Institutionen eine ganz neue Motivation. Hatten die Mitarbeiter während des Veränderungsprozesses sogar noch die Möglichkeit der Partizipation, ist ein großer Schritt in Richtung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes gemacht.

Auch ein anderes Beispiel zeigt die Chancen kollaborativer Zusammenarbeit auf: Nabil Aubeidy, Mitarbeiter des Neuköllner Jugendamtes, und Mitglied in einem Pilotprojekt kollaborativer Zusammenarbeit von Polizisten, Lehrern und Jugendämtern, berichtet in Die Welt: „…Wenn die Jugendlichen merken, oh Gott, die reden ja alle miteinander, dann hat das direkt einen heilsamen Effekt….“ Auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, will ich meinen!

Lösungsansatz 4: Gezielte Kampagnenarbeit und Aufbau eigener Frames

Wie können Institutionen wieder mehr Vertrauen in ihre Arbeit schaffen? Ein Lösungsansatz ist der systematische Aufbau eines attraktiven Images mithilfe von Kampagnenarbeit. Es braucht Emotionen und eine Botschaft, damit (wieder) eine Verbindung zwischen den Bezugsgruppen entstehen kann. Im Mittelpunkt langfristig angelegter Kampagnenarbeit sollte die Frage stehen, welche Wirkung erzielt werden soll – Vertrauen etwa, Zuversicht oder ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit.

Leider beherrschen insbesondere jene die Erfolgsfaktoren von Kampagnenarbeit, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gerade nicht anstreben. Sie agieren hochprofessionell. Diese Kampagnen räumen in Kreativ-Kreisen zwar keinen einzigen Preis ab, auch wenn sie hervorragend gemacht sind, so wie die Brexit-Kampagne. Doch gerade weil sie so hoch professionell aufgesetzt sind, müssten sie Institutionen, Vereinen und Verbänden nicht nur zu denken geben, sondern zu Handlungen führen.

Institutionen – und nicht nur sie – täten auch gut daran, sich mit eigenen Frames zu positionieren und so ebenfalls in Imageaufbau zu investieren. Auch die werden von jenen, die eher Spaltung als Einigkeit im Fokus haben, hochprofessionell eingesetzt. „Mit dem Begriff Frames werden Deutungsmuster beschrieben, die sich in allen Phasen von massenmedialen Kommunikationsprozessen identifizieren lassen. Die Blickwinkel auf das Thema werden als Frames bezeichnet“, schreibt Prof. Dr. Annika Schach von der Hochschule Hannover in dem im Springer Gabler Verlag erschienenen Buch „Professionelle Krisenkommunikation“.

  • Link zum Nachlesen: Annika Schach, Die Macht der Sprache, S. 237, In Jana Meißner und Annika Schach, Professionelle Krisenkommunikation. Basiswissen, Impulse und Handlungsempfehlungen für die Praxis, Springer Gabler, Wiesbaden 2019

Frames sorgen für die Reduzierung von Komplexität. Es geht dabei nicht um den Inhalt selbst, sondern darum, wie eine Botschaft präsentiert wird. Als Beispiel nennt Schach „David gegen Goliath“. „In der Krise lässt sich mit dem David-Motiv immer Sympathie bündeln“, erklärt Schach im oben genannten Buchbeitrag auf Seite 238. Große Unternehmen würden immer Gefahr laufen, die Rolle des Goliaths zugeschrieben zu bekommen. Ein weiteres Beispiel aus der Politik sind die Begriffe „Flüchtlinge“ und „Flüchtlingswelle“.

Sie sind durch professionelles Framing u.a. der AfD grundsätzlich negativ besetzt, was den Hass und die Hetze gegen Migranten förderlich sein könnte. Es existiert kaum eine positive Assoziation mit dem Wort „Flüchtlingswelle“. Dieser Tatsache sollten sich Institutionen, Vereine und Verbände bewusst sein und mit eigenen Frames gegensteuern. Das Feld darf nicht denen überlassen werden, die Framing mit negativem Kalkül einzusetzen wissen.

Lösungsansatz 5: Mediatoren hinzuziehen

Was ist eine Mediation? Eine einfache Definition liefert Wikipedia: „Mediation ist ein strukturiertes, freiwilliges Verfahren zur konstruktiven Beilegung eines Konfliktes, bei dem unabhängige ‚allparteiliche‘ Dritte die Konfliktparteien in ihrem Lösungsprozess begleiten.“

In einer Mediation geht es darum, wieder miteinander in einen Dialog zu treten. Es geht um gegenseitiges Verstehen. Das heißt jedoch nicht, dass die Meinung der anderen Konfliktpartei gänzlich akzeptiert wird, wie auch Dr. Gernot Barth beschreibt. Bei einer Mediation werde jedoch niemand von dem Dialog ausgeschlossen und es gebe keine Diffamierungen.

Die Mediation selbst packt den Konflikt bei der Wurzel, indem sie dort ansetzt, wo er normalerweise erst beginnt. Was sind die Gründe dafür, dass eskalierende Situationen überhaupt erst entstehen? Meistens ist das der Fall, wenn zu wenig kommuniziert wird, eine Partei kein Gehör findet und statt Sachlichkeit Emotionalität und Vorwürfe die Diskussion prägen. Dadurch, dass eine dritte und unabhängige Person den Lösungsprozess begleitet, besteht diese Gefahr weniger. Auch ein möglicher Interessenskonflikt kann ausgeschlossen werden.

In der Praxis wurden Mediationen etwa beim Streit um das Verkehrs- und Städtebauprojekt Stuttgart 21 durchgeführt. Als Mediator trat der ehemalige und mittlerweile verstorbene Politiker Heiner Geißler auf. Die Stuttgarter Zeitung schrieb 2017 über seinen Einsatz: „Heiner Geißler bewältigte die Schlichtung bei Stuttgart 21 mit Bravour und Detailkenntnis. Und Verbesserungen an dem Projekt standen am Ende auch auf der Agenda.“

Auf dieser Grundlage eignet sich die Mediation als mögliche Lösung für Konflikte jeder Art. Ob bei öffentlichen Großbauprojekten oder Streitigkeiten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Milieus. Mit einer Mediation ist die Grundlage für gesellschaftlichen Zusammenhalt geschaffen: Es findet ein Dialog statt – endlich!

Lösungsansatz 6: Die eigene Filterblase verlassen

Unsere Facebook-Timeline ist personalisiert, unsere Freunde stammen oft aus dem gleichen Milieu und in unserer Mediennutzung spiegelt sich unsere politischen Ansichten. Ein Großteil unserer Bevölkerung lebt fast ganz automatisch in einer Filterblase. Wir nehmen nur das wahr, was zu unserer eigenen Denkweise passt. Andersartigkeit dringt insbesondere durch die Personalisierung von sozialen Netzwerken gar nicht erst an uns heran. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist aber genau das wichtig – das Wahrnehmen der Unähnlichkeit!

Soziologe Armin Nassehi spricht sich in einem Interview mit der Zeitung Die Welt vom 2. Juli 2019 für eine Vernetzung mit dem Unähnlichen aus. „Vernetzt euch nicht mit denen, die genauso sind wie ihr, sondern achtet auf Verschiedenheit. Man könnte auch das Diversity nennen“, betont Nassehi.

Auf die Frage, woher der aktuelle Hang zum Opportunismus und zur Konformität komme, antwortet Armin Nassehi: „Es sind nervöse Zeiten, in denen es vielleicht anspruchsvoller ist, sich mit den eher Unähnlichen zu vernetzen, dabei ist die Bestätigung von den Eigenen eher wohlfeil. Opportunismus ist oftmals eher ein Symptom für eine allzu begrenzte Analyse.“

Die eigene Filterblase zu verlassen ist eine gute Vorgehensweise, um der Entzweiung der Gesellschaft und der Konsensunfähigkeit entgegenzuwirken. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Schritt im Kleinen oder Großen stattfindet. Sich mit Ansichten, Denkweisen und Interpretationen zu konfrontieren, die einem fremd sind, trägt in jedem Fall zur Erweiterung des eigenen Horizontes bei.

Lösungsansatz 7: Übersetzungskompetenzen entwickeln

Unsere Welt wird immer komplexer. Schon vermeintlich einfache Entscheidungen erfordern ein Höchstmaß an Fachwissen und Kompetenz. Doch was wird aus den Menschen, die hier Defizite haben? Dazu könnte jeder von uns zählen, denn wer ist schon Experte in allem? Versuchen Sie doch einfach einmal, in einem Fahrradgeschäft ein passendes E-Bike auszuwählen, ohne den Preis als Entscheidungskriterium gelten zu lassen! In einer sich scheinbar immer schneller drehenden Welt, ist es umso wichtiger, bei den Interessengruppen Verständnis für Entwicklungen, Herausforderungen und Probleme zu schaffen.

Damit das funktioniert, ist eine „Übersetzungskompetenz“ notwendig. Diesen Lösungsansatz zeigt der Soziologe Armin Nassehi im zuvor genannten Interview mit der Zeitung Die Welt vom 2. Juli auf. Nassehi spricht von einer „Perspektivdifferenz“ und meint damit, „dass in einer Gesellschaft die Leute an unterschiedlichen Stellen unterschiedliche Probleme lösen müssen.“ Um ihre jeweiligen Herausforderungen verständlich zu machen, sei eine Übersetzungskompetenz nötig. „Diese Übersetzungskompetenz ist nach meinem Dafürhalten der Schlüssel für die Lösung der meisten großen Probleme, die wir derzeit haben“, erklärt Nassehi.

Und noch ein Satz am Ende des für immer unvollendeten Blogbeitrages…

Mein persönlicher Favorit unter den genannten Lösungsansätzen ist übrigens die Nr. 7. Wir alle können davon profitieren, Übersetzungsarbeit zu leisten, wenn wir nur wollen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. In diesem Sinne hoffe ich auf die Bewahrung und – als Zukunftsoptimistin – auch auf die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, ohne den ich mir ein Leben und Wirken nicht vorstellen mag.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag ist zuerst am 17. September 2019 auf www.meissner-communications.com erschienen und wurde aktualisiert. 

Jana Meißner Resilienz-Expertin
Autor

Jana Meißner

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