Erfolgsfaktor Fehlerkultur: Warum das Sanktionieren von Fehlern „von gestern“ ist
Die Otto Group hat Resilienz als Erfolgsfaktor früh erkannt. Manager Tobias Krüger spricht mit dem 22316_MAG über Freiräume und Freude an Veränderung.
22316_MAG: Herr Krüger, Sie sind Division Manager Kulturwandel 4.0 bei der Otto Group. Was verbirgt sich hinter diesem ungewöhnlichen Titel?
Tobias Krüger: In erster Linie ein mega Job. Mein Team und ich haben die große Chance, die unterschiedlichen Gesellschaften der Otto Group bei deren digitaler Transformation zu unterstützen und in den Austausch mit sehr vielen, sehr spannenden Menschen zu kommen. Innerhalb und außerhalb der eigenen Organisation.
Vor fünf Jahren startete der Kulturwandel-Prozess bei der Otto Group. Eines der Ziele ist es, die Zukunftsfähigkeit dauerhaft zu sichern. Was musste bei der Otto Group in Zeiten wettbewerbsintensiver Märkte und neuer Konkurrenten wie Zalando und Amazon passieren, um diesem Ziel näherkommen zu können?
Kulturwandel bedeutet für uns Zukunftsfähigkeit. Wir müssen in der aktuellen Zeit wandlungsfähig und reaktionsschnell sein, wenn wir geschäftlich weiter erfolgreich sein wollen. Daher schauen wir nicht auf den Wettbewerb, sondern fokussieren uns auf unseren Weg. Wir leben unseren Kulturwandel mutig und leidenschaftlich, fest verankert in unserer Strategie. So etablieren wir eine Unternehmenskultur, die so adaptiv ist, dass wir mit den Problemen von heute und – noch viel wichtiger – von morgen, umgehen können. Nachhaltig zukunftsfähig sind wir nur dann, wenn wir unseren Kund*innen ständig viele gute Gründe geben, bei uns einzukaufen. Und dazu nutzen wir die ganze Vielfalt der Otto Group. Viele unterschiedliche Konzernunternehmen arbeiten zusammen und gestalten gemeinsam kreative Prozesse, um inspirierende und nachhaltige Kundenerlebnisse zu kreieren. Und dafür ist eine entsprechend offene und durchlässige Kultur nötig.
„Kulturwandel bedeutet für uns Zukunftsfähigkeit“
Auf der Website der Otto Group ist von „einem radikalen Infragestellen bestehender Strukturen bei einem Maximum an Gestaltungsfreiheit – jenseits von Rollen und Hierarchien“ die Rede. Wie musste sich das Unternehmensumfeld verändern, um diesen Prozess zu realisieren?
Dafür braucht es eine Umgebung und Gestaltungsräume, in denen Kolleg*innen über den Tellerrand schauen, Ideen entwickeln können und diese auch frei artikulieren oder gar ausprobieren dürfen. Dabei darf niemand belächelt oder sanktioniert werden – selbst bei Fehlern. Es geht darum, psychologische Sicherheit und Vertrauen zu etablieren. Klingt erst mal einfach. Ist aber tatsächlich verdammt schwer und braucht vor allem Zeit.
Wandel bedeutet immer auch Mut. Kommunikation ist mit Sicherheit ein Erfolgsfaktor. Wie ist es Ihnen gelungen, alle Mitarbeitenden für dieses wichtige Vorhaben zu begeistern?
Meiner Meinung nach müssen wir nicht alle Mitarbeitenden für einen solchen Prozess gewinnen. Es gilt vielmehr, die interessierten und intrinsisch motivierten Kolleg*innen zu aktivieren. Diese handeln dann soziale Normen aus und schaffen eine entsprechende Kultur, an der sich ein größerer Teil der Mitarbeitenden orientiert.
Dennoch dürfte nicht jeder Führungskraft in Ihrem Haus dieser Ansatz gefallen haben. Wie sind Sie mit Kritik und Widerstand umgegangen?
Hier möchte ich zunächst mit einem Vorurteil aufräumen: Ich habe es nicht erlebt, dass Führungskräfte Veränderungen per se blöd finden oder verhindern wollen. Aus meiner Erfahrung weiß ich, es ist eine Typ-Frage. Bin ich neugierig und mutig? Habe ich Lust, am Rand meiner Komfortzone zu agieren? Die Bereitschaft, sich zu verändern, ist unabhängig vom Geschlecht, dem Alter, der Betriebszugehörigkeit und eben auch der Hierarchie. Damit gab es in der Breite der Organisation immer Führungskräfte, die sich sehr stark gemacht haben für Veränderungen. Und unser Top-Management war und ist weiterhin ein starker Verfechter des Prozesses. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bei uns auch Widerstand gab. Da hilft es, die Leute aktiv einzubinden und konstruktive Rollen zu finden. Partizipation ist hier der Schlüssel.
Stimmt es eigentlich, dass das Machen von Fehlern bei der Otto Group kein Tabu mehr ist und sogar gefördert wird?
Richtig ist, wir haben heute einen viel differenzierteren Umgang mit Fehlern. Grundsätzlich
wollen wir Fehler vermeiden und wenn, dann wollen wir den Fehler nur einmal machen und daraus lernen. Man muss aber unterscheiden. Heute haben wir nicht mehr die Zeit für langes Abwägen, weil wir sonst reale Marktchancen verpassen. In komplexen, globaleren und schnelleren Märkten werden wir vermehrt Entscheidungen unter immer größeren Unsicherheiten treffen müssen. Damit steigt das Fehlerpotenzial, aber gleichzeitig unsere Akzeptanz und der Mut, darüber zu sprechen und Erfahrungen auszutauschen. Das zelebrieren wir bei unseren Fuck-Up Nights. Zudem haben wir Entwicklungsprojekte, wo Experimentieren und Lernen durchaus erwünscht sind, um konkrete Ergebnisse zu liefern. Da ist der Fehler ja fast das Ziel, weil man da dann richtig viel lernen kann.
„Der Vorstand hat sich brutal verändert“
Welches Mindset braucht es, um eine solch transparente Fehlerkultur zu etablieren?
Ich meine, es fängt bei der Ratio an. Zu akzeptieren, dass möglicherweise Fehler passieren und dass man daraus sehr viel lernen kann, erlaubt einen anderen Umgang. In einer immer komplexer werdenden Welt braucht man anstatt mehr vom Selben eben einen Paradigmenwechsel. Man kann dieser Welt nicht mehr mit mehr Regeln und mehr Standards begegnen, sondern muss den Mitarbeitenden die Freiheit geben, im Sinne der Kund*innen und des Unternehmens zu agieren.
Machen wir doch einmal einen kleinen Test, ob das mit der Fehlerkultur bei Ihnen wirklich so gut funktioniert. Woran sind Sie persönlich zuletzt krachend gescheitert?
Ganz konkret habe ich bei einer aktuellen Initiative eine Situation falsch eingeschätzt und am Ende mit zu viel hierarchischer Macht etwas gegen den Willen von Kolleg*innen durchgesetzt. Das hat zu Reibung geführt und das würde ich so sicher nicht noch mal machen.
Wer von Resilienz und Kulturwandel im unternehmerischen Kontext spricht, wird nicht selten immer noch mit Spiritualität und Gefühlsduselei in Verbindung gebracht. Der CEO der Otto Group, Alexander Birken, hat dagegen gesagt: „Der Kulturwandel ist der Umsatz der Zukunft. Die Alternative ist die Insolvenz.“ Wie „messen“ Sie den Fortschritt auch im Hinblick auf wirtschaftliche Ziele?
Wirtschaftlich ist das ziemlich einfach. Da richten wir uns nach den klassischen Kennzahlen einer GuV und Bilanz. Auch wenn der Zusammenhang zwischen dem Kulturwandel 4.0 und dem wirtschaftlichen Erfolg nicht eins zu eins korreliert. Richtig klassisch messen wir den Kulturwandel 4.0 nicht. Wir schauen uns an, was uns in der heutigen Kultur gelungen ist und was wir vorher nicht geschafft hätten. Und da haben wir mittlerweile mehr als 100 Projekte mit echtem Mehrwert für unsere Kund*innen realisiert. Beispielsweise hat das Konzernunternehmen Hermes im Frühjahr 2020 innerhalb weniger Tage die kontaktlose Zustellung als neue, sichere Zustellvariante eingeführt. Das Ergebnis von Mut, Vertrauen und Kollaboration.
Auch der Vorstand der Otto Group war von Anfang an in den Kulturwandel der Unternehmensgruppe involviert. Hat sich auch seine Rolle mittlerweile verändert?
Die formale Rolle hat sich nicht verändert. Das war aber auch nie ein Problem. Es geht im Kulturwandel nicht darum, „was“ jemand macht, sondern „wie“ jemand etwas macht. Und da hat sich der Vorstand brutal verändert. Nämlich in dem, „wie“ sie die Rolle leben. Wie viel Transparenz geschaffen wird, mit welchem Führungsverständnis agiert wird und wie grundsätzlich miteinander gesprochen wird.
„Wir sind nicht Opfer von Veränderung“
Können Sie mir ein konkretes Beispiel nennen, wie die Otto Group durch den Kulturwandel resilienter geworden ist?
Die gegenwärtige pandemische Situation ist sicherlich das naheliegendste Beispiel. Hier zeigt sich, wie wir wirklich zusammenarbeiten, mit welcher Offenheit wir miteinander umgehen und wie Führung auch „remote“ funktioniert. Die Inhalte des Kulturwandels wie Vertrauen und Mut, Ergebnisorientierung, eine veränderte Fehlerkultur und kürzere Entscheidungswege – all das wird für uns nun zum Mehrwert in dieser außerordentlichen Zeit. Zudem profitieren wir von unseren „menschlichen“ Werten als Familienunternehmen. Neben Vertrauen setzen wir auf Fürsorglichkeit. Wir lernen uns auf Distanz besser kennen. Machen einen sogenannten „Check-in“ zum Start eines virtuellen Standups. Wir rücken dichter an uns ran und erfahren eine neue Dimension des Kennenlernens. Plötzlich teilen wir Einblicke in unsere häusliche Umgebung. Da ein Blick ins Wohnzimmer, wo ein Kind durchs Bild rennt, oder die Pinnwand mit Bildern vom Urlaub. Das Szenario kann jede*r selbst bestimmen. Damit behalten wir in dieser krassen Zeit einen menschlichen Touch.
Es gibt einen Satz, der lautet: Nichts ist für immer, außer die Veränderung. Würden Sie sagen, dass das auch für den Kulturwandel der Otto Group gilt?
Klar. Wir haben den Kulturwandel 4.0 von Beginn an offen, ohne definiertes Ende ausgerufen. Und so leben wir den Prozess auch heute. Die Welt dreht sich weiter, die Anforderungen verändern sich permanent, tradierte Modelle werden obsolet. Damit sollte auch der kulturelle Reifegrad mitwachsen.
Sehen Sie bei all der Veränderung im Unternehmen eigentlich auch eine Gefahr, in alte Muster zurückzufallen? Was tun Sie dagegen?
Die Gefahr besteht permanent. Denn es ist nicht so einfach, sich von einer liebgewonnenen Verhaltensweise zu trennen. Es gibt immer wieder Momente, wo man in die bereits überwunden geglaubten Muster zurückfällt. Die Klassiker sind zum Beispiel Meetings, die dann doch Top-Down laufen oder wo es an Respekt im Umgang mangelt. Aber heute gelingt es uns, solche Situationen zu reflektieren, Themen anzusprechen, gegenseitig Feedback zu geben. Über alle Ebenen hinweg.
Welche Ziele hat sich die Otto Group für die Zukunft gesetzt? Oder anders gefragt: Worin sehen Sie auch nach fünf Jahren Kulturwandel noch eine große Herausforderung?
Der Kulturwandel zeigt sich mehr und mehr darin, welche Lösungen wir für unsere Kund*innen schaffen und auch wie. Die spannende Frage ist jetzt: Wie schaffen wir es, künftig ebenso schnell und entscheidungsfreudig zu bleiben, wie wir es aktuell sind? Was ist die Antwort? Die werden wir gemeinsam finden müssen. Die größte Herausforderung ist, dass wir in der Tiefe der Organisation lieben lernen, dass Veränderung etwas Gutes ist. Die Freude an Veränderungen ist den Menschen nicht in die Wiege gelegt. Aber die Veränderung in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und in unser aller Leben wird exponentiell weitergehen. Umso wichtiger ist, dass wir Freude an dem Gedanken bekommen: Wir sind nicht Opfer von Veränderung und schon gar nicht von irgendwelchen Wettbewerbern, sondern wir sind auf einem guten Weg, Veränderungen mitzugestalten und etwas richtig Gutes daraus zu machen. Was bleibt an Erkenntnis: Wir brauchen den Mut, ausgetretene Pfade zu verlassen und unsere Haltung immer wieder infrage zu stellen. Gewinnbringende Zusammenarbeit gelingt nur, wenn sie auf ehrlicher Kommunikation und Vertrauen basiert, auf Transparenz und auf Mut.
Bilder:
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