Erfolgsfaktor: Organisationale Resilienz
Die Frage, was manche Familienunternehmen erfolgreich altern lässt, während viele andere in jüngeren Jahren scheitern, fasziniert Forschung und Praxis. „Resilienz“ scheint eine ebenso simple wie trendige Antwort zu sein. Doch was steckt dahinter? Damit diese Organisationen und die in ihnen verknüpften sozialen Systeme – Familie und Unternehmen – Krisen bewältigen können, kommt es entscheidend auf familiale Resilienz an. Diese setzt immaterielle Ressourcen wie z.B. Glaubenssätze und eine oft unterschätzte Sensibilität für Zeit voraus. Ein Gastbeitrag von Dr. Thomas Urban.
„Bilder der Familienchefs abgehängt!“ Mit diesem stummen Ausruf beginnt Rudolf Koller, ein Schwiegersohn der Eigentümerfamilie, im Juni 1975 seine Notizen zur Verwaltungsratssitzung der C.F. Bally Holding AG in Zürich. Es steht schlecht um den Mitte des 19. Jahrhunderts in der idyllischen Schweizer Gemeinde Schönenwerd von Carl Franz Bally als Schuhfabrik gegründeten Familienkonzern. Eine Kombination aus Strategie-, Branchen- und Wirtschaftskrise lässt die Geschäftszahlen einbrechen. Der Kurs der an der Börse gehandelten Aktien ist im Sinkflug. Dividenden werden zunächst halbiert und dann gestrichen. Immer mehr Mitglieder der Familie verkaufen ihre Anteile. Ein Jahr später – kurz nach dem 125-jährigen Jubiläum – kommt der gemeinsame Weg von Familie und Unternehmen an sein Ende. Denn nahezu zeitgleich mit dem Tod des hochbetagten Patriarchen Max Bally kann ein junger Investor die Aktienmehrheit erringen. Dieser verkauft den Besitz 1977 an einen Rüstungskonzern. Weitere Eigentümerwechsel folgen. – Warum fehlt es der Gründerfamilie an Resilienz?
Dominanz und Dynamik des Familienfaktors
In der Konfrontation mit existenziellen Verwerfungen unterschiedlicher Herkunft, Dauer, Intensität und Häufung kann Resilienz als eine „aus ressourcenorientierten Verarbeitungsprozessen resultierende Eigenschaft“ (Urban, 2023) definiert werden. Ohne den Einsatz bestehender oder neu gebildeter Ressourcen ist Resilienz somit nicht zu haben. Zudem ist ihre Lebensdauer begrenzt – sie muss also in jeder Krise neu erzeugt werden. Mit organisationaler, familialer und individualer Resilienz können in Familienunternehmen drei verschiedene Dimensionen von Krisenfestigkeit aufeinander wirken.
Organisationale Resilienz definiert Stephanie Duchek als die „Fähigkeit, kritische Situationen zu antizipieren, effektiv mit ihnen umzugehen und aus ihnen zu lernen, um gestärkt daraus hervorzugehen“ (Duchek, 2020). Ihren Beitrag in der zweiten Ausgabe des 22316_MAG schließt die Autorin mit dem Appell, den Blick zu weiten: „Denn nur eine Organisation mit resilienten Individuen und resilienten Teams kann selbst resilient sein“. In Familienunternehmen liegt der Fokus demgegenüber entscheidend auf familialer Resilienz. Die US-amerikanische Entwicklungspsychologin Froma Walsh (2006, 2016) sieht in Glaubenssätzen bzw. komplexen belief systems, emotionalen Bindungen, klarer Kommunikation sowie in flexiblen Organisationsstrukturen wichtige Ressourcen resilienter „gewöhnlicher“ Familien. Auf (größere) Unternehmerfamilien bezogen sind Zusammenhalt, Identifikation mit dem Unternehmen und der Glaube an eine erfolgreiche Fortsetzung des gemeinsamen Weges von hoher Bedeutung. Ähnliches trifft auf Gremien als Plattformen von Austausch, Willensbildung und Entscheidungsfindung zu. Vertrauen – in Organisationen, in Kompetenzen und zwischen Personen – ist als Schlüsselressource für Resilienz anzusehen. Daher muss es bereits in krisenärmeren Zeiten aufgebaut werden.
Konkurriert familiale mit individualer Resilienz, muss der Familienfaktor die Oberhand gewinnen. Denn ansonsten könnten z.B. überoptimistisch-selbstbewusst agierende Alleinentscheider den Bestand als Familienunternehmen gefährden. Von der Familie geht wiederum das Risiko aus, dass sich nicht selten historisch gewachsene (Konflikt-)Dynamiken zu Lasten organisationaler Resilienz entwickeln.
Damit kehren wir noch einmal zum Eingangsbeispiel zurück. Bei Bally sind die in den 1970er Jahren gehäuften Aktienverkäufe der Eigentümerfamilie keine kurzfristige Reaktion, sondern das Ergebnis eines schleichenden Entfremdungsprozesses vom Konzern. Denn die dritte Generation verwehrt nach ihrem Ausscheiden aus der operativen Leitung in den 1950er Jahren den Schwiegersöhnen aus mangelndem Zutrauen die Nachfolge und beruft stattdessen angestellte Manager. Auch der einzige leibliche männliche Nachkomme bleibt, ebenso wie sämtliche Töchter, von der Führung ausgeschlossen – und nimmt sich 1970 das Leben. Verwaltungsrat Koller ist mit Vorwürfen konfrontiert, er habe durch eigene Aktienverkäufe den Niedergang des Konzerns befeuert. Statt Zusammenhalt herrscht gegenseitiges Misstrauen. Es gibt kein Familiengremium, und sogar die traditionellen Familientage finden nicht mehr statt. Der grassierende Einfluss- und Sinnverlust, symbolisiert durch das Abhängen der Bally-Porträts in der Züricher Zentrale, lässt sich nicht mehr umkehren – auch dann nicht, als der Konzern im Umfeld der Übernahme wieder gesundet und Dividenden ausschüttet. Anders formuliert: Ohne familiale Resilienz kann organisationale Resilienz nicht zum Erhalt eines Familienunternehmens beitragen.
Ressourcen und Resilienz im Zeitverlauf
Familienunternehmen zeichnen sich in hohem Maße durch ihre Zeitgebundenheit aus. Diese kommt bereits im generationsübergreifenden Denken und Handeln zum Ausdruck. Ebenso verhält es sich mit ihren Ressourcen: So können z.B. Glaubenssätze einer Eigentümerfamilie im Zeitverlauf deutlich verblassen oder die Zahl von Personen, die der Familie angehören und sich als Geschäftsführer:in oder Gesellschafter:in engagieren möchten, zur Neige gehen. Paradoxerweise sind solche Ressourcen zugleich erschöpflich und erneuerbar. Allerdings zeigt das Beispiel Bally: Ab einem gewissen zeitlichen Kipp-Punkt können sich Ressourcen durch eine negative Dynamik zu Handicaps entwickeln. Dies wirkt sich auf die Erzeugung von Resilienz aus. Denn wenn in der Familie statt Zusammenhalt nunmehr Misstrauen herrscht, steht diese Ressource nicht mehr für eine erfolgreiche Krisenverarbeitung bereit. Ressourcen und Resilienz sind somit zeit- und kontextgebundene Phänomene. So kann etwa dieselbe Person, die noch während der letzten Krise durch rasche und kluge Entscheidungen den Fortbestand des Unternehmens als Familienunternehmen gesichert hat, in der Gegenwart die Existenz der Organisation gefährden. Daher kommt es auch auf das Gespür und die Kompetenz der Familien an, die „richtigen“ Vertreter:innen in die Gremien zu wählen und falsche Personalentscheidungen zu korrigieren.
Eine wichtige vermittelnde Funktion in Familienunternehmen kommt bei der Erzeugung von Krisenfestigkeit in der Gegenwart den Resilienz-Narrativen zu. Hiermit sind subjektive Erzählungen gemeint, die die Bewältigung krisenhafter Situationen in der Vergangenheit adressieren. Im besten Fall stärkt das (Re-)Aktivieren dieser Erzählungen nicht nur Zusammenhalt und Zuversicht, sondern ruft auch zeitlos verwertbare Instrumentarien und Handlungsmuster in Erinnerung. Insofern sind Resilienz-Narrative eng mit dem spezifischen Erfahrungswissen und Familiengedächtnis verbunden. In jedem Fall schreiben sich diese Erzählungen zeitgebunden fort und werden bestimmte Aspekte – je nach Interessen- und Krisenlage – ausgeklammert oder anders akzentuiert.
Praxis-Check: Familiale Resilienz
Der Beitrag schließt mit einer kleinen Checkliste für die Praxis. Diesen Fragen sollten sich Akteur:innen von Unternehmerfamilien stellen, um in künftigen Krisen familiale Resilienz erzeugen zu können.
- Wie steht es um unsere Ressourcen-Ausstattung? Wofür stehen wir? Was verbindet uns mit dem Unternehmen? Woran glauben wir? Gibt es toxische Glaubenssätze?
- Wie steht es um das Vertrauen zwischen Personen/in Kompetenzen/in die Organisation?
- Von welcher Organisationsstruktur (Großfamilie, Stämme, etc.) versprechen wir uns Resilienz? Inwieweit verfügen wir über effiziente und flexible Familiengremien? Wie kommunizieren wir?
- Inwieweit besitzen wir Gesellschafterkompetenz? Wählen wir die „richtigen“ Personen in unsere Gremien? Priorisieren wir die Interessen der Organisation vor individuellen Interessen?
- Ist uns bewusst, dass wir Ressourcen nicht nur besitzen, sondern auch einsetzen müssen?
- Wie haben unsere Vorfahren in Krisensituationen der Historie gehandelt? Welche Ressourcen standen ihnen zur Verfügung? Inwieweit können wir von Erfahrungswissen und Resilienz-Narrativen profitieren?
- Ist unsere historisch gewachsene Kopplung von Familie und Unternehmen noch zeitgemäß und zukunftsfähig? Bereichert oder bedroht die Familie das Unternehmen?
Quellen:
Duchek, S. (2020). Organizational resilience: a capability-based conceptualization. Business Research, 13(1), 215-246.
Urban, T. (2023). Unternehmerfamilien im krisenreichen 20. Jahrhundert. Zwischen Spürsinn und Sinnverlust, Wiesbaden, Gabler.
Walsh, F. (2006). Strengthening family resilience. Guilford Press.
Walsh, F. (2016). Family Resilience. A developmental systems framework. European Journal of Developmental Psychology, 13(3), 1-12.
Zur Person:
Thomas Urban ist Privatdozent an der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Regionalwissenschaften der Universität Leipzig. Dort lehrt der Historiker im Fachgebiet Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen in der unfreien Arbeit seit der Frühen Neuzeit, der Geschichte des ökonomischen Denkens, der Transformation von Industrieregionen und in familienbeeinflussten Unternehmen. Zum Thema Resilienz forscht er seit seiner Habilitation zu Unternehmerfamilien im krisenreichen 20. Jahrhundert. Die von der Wittener Institut für Familienunternehmen-Stiftung geförderte, 2023 erschienene Studie enthält acht Fallbeispiele aus Deutschland und der Schweiz. Als früherer wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Bochum, Bonn und Köln koordinierte er zahlreiche Projekte, und als Geschäftsführer organisierte er den 54. Deutschen Historikertag in Leipzig. Bei Anfragen wenden Sie sich gerne an thomas.urban@rub.de